6. Juli 2006 Volker Enderle – Gründungsmitglied blut.eV

Vor 25 Jahren war vieles anders!

Im Mai 1981 stellten die Ärzte bei mir eine akute myeloische Leukämie (AML) fest. Ich war fassungslos und hatte Angst vor dem, was auf mich zukommen würde. Nach der ärztlichen Aufklärung über mein Krankheitsbild und die Behandlungsmöglichkeiten war mir klar, dass es für mich „um Leben oder Tod“ ging. Meine einzige Heilungschance lag in einer Transplantation von Knochenmark. Aber dafür brauchte ich einen Spender. Als Spender kamen in dieser Zeit nur HLA-identische Geschwister in Frage.

Auf eine Knochenmark- bzw. Stammzellspenderdatei konnte man damals nicht zurückgreifen, da es sie in der heutigen Form einfach nicht gab. Ich hatte das Glück, dass mein Bruder „passte“. Die Transplantation sollte im Juli 1982 in der Uniklinik Ulm, einem der wenigen speziell dafür eingerichteten Zentren Europas, durchgeführt werden, und ich war einer der ersten Patienten überhaupt, der diese Chance bekam. Nach den damaligen Erfahrungen lagen die Überlebenschancen von Transplantation und Posttransplantationsphase bei 60 %. Mit diesem Wissen, aber auch mit großer Hoffnung und Gottvertrauen machte ich mich auf den ungewissen Weg.

Vor der Übertragung des Knochenmarks bekam ich eine hoch dosierte Chemotherapie mit Zytostatika, die heute zum Teil gar nicht mehr eingesetzt werden. Ähnliches gilt auch für die Bestrahlung. Ich musste 12 Stunden Ganzkörperbestrahlung durchstehen ­ es war eine Tortur! Glücklicherweise muss dies heute nur noch selten angewandt werden.

Vom Plastikzelt zum „high-tech-room“
Bedingt durch die extreme Abwehrschwäche und Infektionsgefährdung nach der Vorbehandlung wird heute der Patient nach der Transplantation in einem sterilen Krankenzimmer mit hochtechnischen Geräten, einem so genannten „high-tech-room“ behandelt.

Mein damaliges „Zuhause“ bestand aus einem quaderförmigen Stahlgerüst
(2,50 m x 1,50 m x 2,00 m) umhüllt von Plastikwänden und einer integrierten Fensterschleuse, dem berüchtigten Isolationszelt. Alles musste durch diese Schleuse transportiert und sterilisiert werden. Im Zelt stand ein Bett, sonst nichts. Tür, Tisch oder Stuhl, Toilette, Nasszelle, etc. – Fehlanzeige.

Die medizinische Versorgung erfolgte von außen. An einer speziellen Apparatur wurden zum Beispiel Infusionen angeschlossen. Ich musste im Zelt „entgegenstöpseln“, egal ob es mir gerade gut oder schlecht ging. Knochenmarkpunktionen wurden durch so genannte „Greifarme“ von außen durchgeführt. Geringe Erfahrungen und die oft nicht voraussehbaren Reaktionen meines Körpers forderten die Ärzte zu sorgfältigem Abwägen und Handeln, zum Experimentieren. Die frühere Behandlungsmethode war besonders risikoreich. Körperliche Pflege durch das Personal war nicht möglich, der Bewegungsraum im Zelt sehr beschränkt. Vor allem fehlte mir die körperliche Nähe. Es war nicht einfach, aber ich musste durch.

In dieser Zeit entwickelte sich in mir ein stetig wachsendes Vertrauen zu den Ärzten und dem Pflegepersonal. Ihre Offenheit, das Gespräch über Risiken, aber auch das Aufzeigen der großen Chance brachte mich immer wieder ins Gleichgewicht. Das Zelt empfand ich in erster Linie als Schutzfunktion vor Infektionen und ich glaube, nur so konnte ich überdauern. Nach 51 Tagen durfte ich meine Plastikwelt verlassen. Für eine notwendige Reha-Maßnahme fehlten noch die geeigneten Einrichtungen. Der Start in das „neue Leben“ drohte mehrmals zu einem Fehlstart zu werden. Meine Familie und ich waren oft überfordert, kritische Situationen zu bewältigen. Wir suchten Rat, Zuwendung und Unterstützung, um die Stufen zu bewältigen, die mich zurückbringen sollten in die „heile Welt“ – doch oft vergebens.

Ich habe es geschafft und heute weiß ich, welche Gnade es ist, gesund zu sein. Ich möchte Mut machen und Hoffnung geben für alle Betroffenen, damit auch ihr Weg gangbar wird. Das Heute ist geprägt durch wissenschaftliche Fortschritte für Empfänger und Spender, aber auch durch viele private Initiativen. Neue Behandlungsverfahren und neue Therapieansätze sind Gegenstand der Forschung. Zahlreiche Vereine und Selbsthilfegruppen haben sich gebildet mit dem Ziel, die Situation der Patienten und ihrer Angehörigen zu verbessern und den Auf- und Ausbau der Spenderdateien zu ermöglichen. Dafür steht auch unser Verein blut.eV. Wie unermesslich segensreich der Wert seiner Hilfe ist, weiß ich als Betroffener besonders zu schätzen.

„Viele kleine Schritte an vielen kleinen Orten können vieles bewirken“. Es lohnt, sich auch weiterhin zu engagieren für Menschen in Not.